Einkommen und Lebensbedingungen 2021
Einkommen und Lebensbedingungen 2021

Einkommen und Lebensbedingungen 2021

Materielle und soziale Deprivation

Die Quote der materiellen und sozialen Deprivation beschreibt den Anteil Personen, die aus finanziellen Gründen auf wichtige Güter, Dienstleistungen und soziale Aktivitäten verzichten müssen. Dieser neue Indikator ist eine Weiterentwicklung der bisherigen Quote der materiellen Entbehrung und ersetzt diese sowohl in der Schweiz als auch auf europäischer Ebene. Der Anteil deprivierter Personen bleibt in der Schweiz ähnlich hoch wie bisher. Dennoch sind die neuen Ergebnisse nicht direkt mit der bisherigen Quote der materiellen Entbehrung vergleichbar.

Informationen zur Deprivation sind eine wichtige Ergänzung zu den monetären Armutsindikatoren: Sie zeigen auf, ob jemand eine Unterversorgung in Bereichen aufweist, die von den meisten Menschen in Europa als wünschenswert oder sogar als notwendig für ein angemessenes Leben angesehen werden. Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat seit 2010 jährlich eine Quote der materiellen Entbehrung gemäss den Definitionen des europäischen statistischen Amtes (Eurostat) auf Basis der Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) publiziert. Die Informationen reichen zurück bis ins Datenjahr 2007. Dieser Indikator wurde in den letzten Jahren auf europäischer Ebene revidiert und um soziale Aspekte ergänzt. Er ist zudem Teil des europäischen Indikators zur Armut und sozialen Ausgrenzung, der zur Messung der Zielvorgaben der Europäischen Union für 2030 dient. Die Quote der materiellen und sozialen Deprivation löst nun auch in der Schweiz den bisherigen Indikator zur materiellen Entbehrung ab. Er wird bis ins Jahr 2015 zurück berechnet und ab sofort jährlich publiziert.

Warum ein revidierter Indikator?

Der bisherige Indikator zur materiellen Entbehrung wurde über die Jahre immer weniger relevant (Kaczmarec-Firth & Dupré 2018). Manche der darin berücksichtigten Mängel wie der fehlende Zugang zu einer Waschmaschine oder das Fehlen eines Farbfernsehers aus finanziellen Gründen sind in vielen europäischen Ländern kaum mehr ein Thema. Dagegen haben zunehmend andere, nicht-materielle Dimensionen an Bedeutung gewonnen, die mit dem bisherigen Indikator nicht abgedeckt wurden.

Eurostat hat deshalb einen neuen, verbesserten Indikator entwickelt, der auf einer eingehend geprüften und überarbeiteten Auswahl von Lebensbereichen basiert (Guio et al. 2017). Da er nicht nur materielle, sondern auch soziale Faktoren berücksichtigt, wird er (in Abgrenzung zum bisherigen Indikator «Quote der materiellen Entbehrung») als «Quote der materiellen und sozialen Deprivation» oder auch nur kurz «Deprivation» bezeichnet (European Commission 2017).

Mehr und relevantere Fragen

Gemäss der europäischen Definition gilt eine Person als materiell und sozial depriviert, wenn sie in mindestens fünf von 13 Lebensbereichen einen Mangel aus finanziellen Gründen aufweist (siehe Glossar). Besteht ein Mangel in mindestens sieben der 13 Bereiche, wird von erheblicher Deprivation gesprochen. Diese Grenzwerte wurden von Eurostat bewusst so gewählt, dass der Anteil deprivierter Personen im europäischen Durchschnitt ähnlich hoch ausfällt wie mit dem bisherigen Indikator (European Commission 2017).

Der bisherige Indikator wurde aus neun Elementen konstruiert, die alle auf der Haushaltsebene erhoben wurden. Der neue Indikator bezieht dagegen Informationen auf Haushalts- und Personenebene ein. Sieben der betrachteten Bereiche betreffen den Haushalt als Ganzes und sind somit für alle Personen in einem bestimmten Haushalt identisch (z. B. das Vorhandensein von Zahlungsrückständen). Neu werden allen Personen ab 16 Jahren zudem sechs Fragen im individuellen Fragebogen gestellt, wie z. B. zur Möglichkeit, regelmässig eine kostenpflichtige Freizeitaktivität auszuüben. Die Antworten auf diese Fragen können sich zwischen den verschiedenen Haushaltsmitgliedern unterscheiden. Die individuellen Fragen bieten somit auch neues Analysepotenzial für künftige Untersuchungen. So könnte z. B. untersucht werden, ob in Paarhaushalten bei­de Partner gleichermassen von Deprivation betroffen sind oder ob innerhalb des Haushaltes Unterschiede bestehen (siehe z. B. Guio & Van den Bosch 2019).

Tabelle T1 fasst die bisherigen und neuen Bereiche der Deprivation zusammen. ­

Bereiche der DeprivationT1

Materielle
Entbehrung
Materielle und
soziale Deprivation
Haushaltsebene (alle Personen im Haushalt, inkl. Kinder)
Besitz oder Zugang zu einer Waschmaschine x
Besitz eines Farbfernsehers x
Besitz eines Telefons x
Ein Auto zur privaten Nutzung haben x x
Keine Zahlungsrückstände x x
In der Lage sein, unerwartete Ausgaben von 2500 Franken innerhalb eines Monats zu tätigen x x
In der Lage sein, eine Woche Ferien pro Jahr weg von zu Hause zu finanzieren x x
Mind. jeden 2. Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder vegetarischer Entsprechung x x
In der Lage sein, die Wohnung ausreichend zu heizen x x
Ersetzen von abgenutzten Möbeln x
Individuelle Ebene (nur Personen ab 16 Jahren)
Internetzugang zu Hause (inkl. Smartphone, Tablet etc.) x
Abgetragene Kleider mit einigen neuen Kleidern ersetzen können x
Besitz von zwei Paar passenden Schuhen, davon ein Allwetterpaar x
Jede Woche etwas Geld für sich selbst ausgeben x
Regelmässige kostenpflichtige Freizeitbeschäftigung x
Mind. einmal pro Monat Freunde oder Familie zum Trinken oder Essen treffen x

Quelle: European Commission (2017)

© BFS 2023

Angepasste Berechnung für Kinder

Kinder unter 16 Jahren werden in SILC nicht individuell befragt. Damit auch für sie jedes Jahr eine Quote der materiellen und sozialen Deprivation berechnet werden kann, werden die Informationen zu den Personen ab 16 Jahren im Haushalt verwendet: Wenn mindestens die Hälfte dieser Personen in einem bestimmten Bereich depriviert ist, wird angenommen, dass die Kinder in diesem Bereich ebenfalls depriviert sind. Auch bei den Kindern liegt der Schwellenwert für die Quote der materiellen und sozialen Deprivation bei fünf resp. sieben von 13 Bereichen. Davon müssen jedoch mindestens drei Mängel auf Haushaltsebene vorliegen, damit der Indikator nicht zu empfindlich auf die Deprivatio­nen der Erwachsenen reagiert (European Commission 2017). Es handelt sich somit genau genommen nicht um deprivierte Kinder, sondern um Kinder, die in Haushalten mit materieller und sozialer Deprivation leben. Um den speziellen Bedürfnissen der Kinder besser Rechnung zu tragen, werden den Haushalten mit Kindern unter 16 Jahren neu alle drei Jahre zusätzliche Fragen zum Besitz bestimmter Gegenstände (wie z. B. Spielsachen oder Bücher) sowie zur Teilnahme der Kinder an altersgerechten Aktivitäten gestellt (siehe auch BFS 2016). In die jährlich publizierten Indikatoren, die hier präsentiert werden, fliessen diese Fragen jedoch nicht ein.

Materielle und soziale Deprivation in der Schweiz

2021 galten in der Schweiz 5,2% der Bevölkerung als materiell und sozial depriviert (siehe G1). Rund 448 000 Personen hatten somit gemäss ihren eigenen Angaben in mindestens fünf der 13 Bereiche einen Mangel aus finanziellen Gründen. Die Quote der erheblichen materiellen und sozialen Deprivation (Mangel in 7 von 13 Bereichen) betrug im selben Jahr 1,8%. Dies entspricht rund 157 000 Personen.

Eine Analyse nach Untergruppen zeigt auf, welche Bevölkerungsgruppen besonders häufig depriviert sind. Am höchsten liegen die Quoten der materiellen und sozialen Deprivation bei arbeitslosen Personen, ausländischen Personen aus den «übrigen Ländern» Diese Gruppe umfasst alle Personen mit Nationalitäten ausserhalb von Nord-, West- oder Südeuropa. 2021 stammte die Mehrheit der Personen aus den folgenden Ländern: Kosovo, Sri Lanka, Serbien, Nordmazedonien, Eritrea, Brasilien, Rumänien, Dominikanische Republik, China. sowie Personen in der untersten Einkommensgruppe. Für die Auswertungen nach Einkommensgruppen wurden die Beobachtungen der Grösse nach geordnet und in fünf gleich grosse Gruppen eingeteilt (Einkommensquintile). Jede dieser Klassen umfasst somit 20% der Bevölkerung. Basis für die Einteilung ist das verfügbare Äquivalenzeinkommen (siehe Glossar). Die geringsten Werte weisen dagegen Personen in den obersten Einkommensgruppen auf. Die finanzielle Situation des Haushaltes spielt folglich eine wichtige Rolle für die Vermeidung von materieller und sozialer Deprivation.

Auch bei Personen in Einelternhaushalten, übrigen Nichterwerbstätigen, Personen ohne nachobligatorische Ausbildung und alleinlebenden Personen unter 65 Jahren liegen die Werte signifikant über dem Durchschnitt. Die Vertrauensintervalle dieser Quoten überschneiden sich nicht mit jenem des Durchschnitts (siehe Glossar). Unterdurchschnittliche Quoten finden sich dagegen bei Paaren im Erwerbsalter ohne Kinder, Personen mit einem Abschluss auf Tertiärstufe, Erwerbstätigen und Personen mit Schweizer Staatsbürgerschaft.

Vergleicht man die verschiedenen Altersgruppen, fällt auf, dass die Quote der materiellen und sozialen Deprivation mit dem Alter tendenziell zurückgeht. Am tiefsten liegt sie bei den Personen ab 75 Jahren. Entsprechend sind auch Rentnerinnen und Rentner vergleichsweise selten von materieller und sozialer Deprivation betroffen.

Frauen sind tendenziell häufiger depriviert als Männer, der Unterschied ist jedoch statistisch nicht signifikant.

Regional betrachtet ist die Quote der materiellen und sozialen Deprivation in den italienischen und französischen Sprachregionen höher als in den deutschsprachigen oder rätoromanischen Gebieten. Sie ist zudem in dicht besiedelten Gebieten höher als in dünn besiedelten Gebieten.

Einzelne Bereiche der Deprivation

Die Quote der materiellen und sozialen Deprivation kann auch in ihre einzelnen Bereiche zerlegt werden. So wird erkennbar, wie verbreitet die verschiedenen Bereiche der Deprivation in der Schweiz sind (siehe G2).

Die mit Abstand häufigste Art der Deprivation betrifft die Unfähigkeit, innerhalb eines Monats unerwartete Ausgaben von 2500 Franken begleichen zu können. Fast ein Fünftel der Bevölkerung lebte im Jahr 2021 in einem Haushalt, der dazu nicht in der Lage war. Auch die beiden nächsthäufigen Deprivationen betrafen den Haushalt als Ganzes. So gaben 10,4% der Bevölkerung an, nicht genügend finanzielle Mittel zu besitzen, um abgenützte Möbel ersetzen zu können, und 8,7% konnten nicht jedes Jahr mindestens eine Woche lang in die Ferien fahren. Die häufigste Deprivation auf individueller Ebene betraf mit 7,9% den Verzicht auf eine regelmässige kostenpflichtige Freizeitaktivität. 

7,2% der Bevölkerung lebten in Haushalten, die gemäss eigener Angabe in den letzten zwölf Monaten Zahlungsrückstände bei Rechnungen des täglichen Bedarfs hatten. Dabei werden gemäss der europäischen Definition folgende Rechnungen berücksichtigt: Miete oder Hypothekarzinsen für den Hauptwohnsitz, laufende Rechnungen für Wasser, Strom, Gas und Heizung sowie Kreditrückzahlungen. Werden auch Zahlungsrückstände bei Krankenkassenprämien (Grundversicherung) und Steuern einbezogen, steigt dieser Anteil auf 11,5%.

Weiter gaben 6,3% der Bevölkerung an, dass sie nicht jede Woche etwas Geld für sich selbst ausgeben können, ohne jemanden fragen zu müssen. 4,0% mussten aus finanziellen Gründen auf ein Auto verzichten, 3,5% konnten sich nicht von Zeit zu Zeit neue Kleider kaufen, und 3,0% konnten es sich nicht leisten, mindestens einmal pro Monat Freunde oder Familie zum Essen oder Trinken zu treffen. Zudem konnten sich 1,5% der Bevölkerung nicht mindestens jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder vegetarischer Entsprechung finanzieren. Die übrigen Bereiche (zwei Paar Schuhe, Heizung und Internet­zugang) betrafen in der Schweiz weniger als 1% der Bevölkerung und waren somit verhältnismässig selten. 

Deprivation und Covid-19

In den Bereichen «Freunde/Familie zum Essen/Trinken treffen» und «regelmässige Freizeitbeschäftigung» waren 2021 deutlich weniger Personen aus finanziellen Gründen depriviert als 2019. Dafür stieg jedoch der Anteil Personen an, die «aus anderen Gründen» darauf verzichteten. Der Rückgang der Deprivation in diesen Bereichen ist somit eher auf die Einschränkungen während der Covid-19-Pandemie zurückzuführen als auf eine Verbesserung der finanziellen Situation. In den übrigen Bereichen waren hingegen keine grösseren Auswirkungen der Pandemie erkennbar.

Deprivation und monetäre Armut

In der Regel werden Informationen zur Deprivation ergänzend zur Einkommensarmut verwendet. Da die monetären Armutsindikatoren vom BFS ebenfalls auf Basis von SILC berechnet werden, kann die Überschneidung zwischen der Deprivation und der Einkommensarmut ermittelt werden. Die hier verwendete Armutsgrenze leitet sich von den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ab. Sie setzt sich zusammen aus dem Grundbedarf für den Lebensunterhalt, den individuellen Wohnkosten sowie monatlich 100 Franken pro Person ab 16 Jahren im Haushalt für weitere Auslagen.

Tatsächlich besteht zwischen diesen Konzepten kein perfekter Zusammenhang (Guio et al. 2017), d. h. Personen können depriviert sein, obwohl ihr Einkommen die Armutsgrenze übersteigt, und ebenso kann es sein, dass sie einkommensarm sind, ohne depriviert zu sein. Es scheint plausibel, dass finanzielle Schwierigkeiten erst nach einiger Zeit zu Deprivation führen, zudem können Haushalte allenfalls auch andere Ressourcen als Einkommen nutzen, um ihren Lebensstandard aufrecht zu erhalten (z. B. finanzielle Reserven, soziale Netzwerke, nicht-monetäre Unterstützungsleistungen). Andererseits können besondere Be­dürfnisse (z. B. gesundheitliche Beeinträchtigung) die Lebenskosten steigern, so dass in manchen Fällen auch ein Einkommen über der Armutsgrenze nicht ausreicht, um materielle und soziale Deprivation zu verhindern. Siehe z. B. Nolan & Whelan (2010) für eine empirische Untersuchung solcher Abweichungen sowie eine Literaturübersicht zu möglichen Gründen dafür.

G3 zeigt, dass die Quote der materiellen und sozialen Depri­vation bei den einkommensarmen Personen deutlich höher ausfällt als bei den nicht einkommensarmen Personen (16,5% vs. 4,2%). Dabei bestehen jedoch grosse Unterschiede zwischen den Altersgruppen. Während Personen im Erwerbsalter (18–64 Jahre) ihren Lebensunterhalt primär durch Einkommen bestreiten, können Personen im Rentenalter deutlich häufiger auf andere Ressourcen (wie z. B. Vermögen) zurückgreifen. Entsprechend sind die Unterschiede nach dem Armutsstatus bei den älteren Personen geringer.

In den einzelnen Bereichen sind nochmals bedeutend mehr einkommensarme Personen depriviert (siehe G4). So kann die Hälfte der einkommensarmen Personen im Erwerbsalter keine unerwarteten Ausgaben tätigen, und jeweils rund ein Viertel muss aus finanziellen Gründen auf Freizeitaktivitäten, Ferien oder neue Möbel verzichten. Bei den nicht einkommensarmen Personen im Erwerbsalter sind diese Anteile deutlich tiefer.  

Materielle und soziale Deprivation in Europa

Da die Informationen zur materiellen und sozialen Deprivation in allen SILC-Ländern erhoben werden, können die Ergebnisse auf europäischer Ebene verglichen werden. Die Ländervergleiche sind in der Datenbank von Eurostat verfügbar: https://ec.europa.eu/eurostat/web/income-and-living-conditions/database Die Quote der materiellen und sozialen Deprivation lag 2021 in der Schweiz mit 5,2% deutlich unter dem europäischen Durchschnitt von 11,9% (siehe G5). Von unseren Nachbarländern wies nur Österreich eine tiefere Quote als die Schweiz auf. In Deutschland, Frankreich und Italien lag sie dagegen deutlich höher. Am höchsten waren die Anteile der von materieller und sozialer Deprivation betroffenen Bevölkerung in Rumänien (34,5%), am tiefsten in Schweden (3,5%). 

Die Reihenfolge der einzelnen Bereiche war auf europäischer Ebene ähnlich wie in der Schweiz (siehe G6). So betraf 2021 auch in Europa der häufigste Mangel die Fähigkeit, unerwartete Ausgaben zu tätigen. Die Höhe des erfragten Betrages hängt vom Einkommensniveau des Landes ab und entspricht ungefähr der Armutsgefährdungsgrenze für einen Monat. In der Schweiz sind dies rund 2500 Franken. Im Durchschnitt waren 30,1% der europäischen Bevölkerung dazu nicht in der Lage, wobei jedoch zwischen den einzelnen Ländern grosse Unterschiede bestehen. So reichte die Spannweite 2021 von 15,1% (Niederlande) bis 47,3% (Rumänien). Der zweithäufigste Mangel in Europa betraf mit 27,6% den Bereich «eine Woche Ferien». In der Schweiz lag dieser Mangel mit 8,7% erst an dritter Stelle. Auch hier sind die Unterschiede zwischen den Ländern gross: Während in Schweden 8,3% auf Ferien verzichten mussten, lag der Wert in Rumänien rund siebenmal so hoch (60,0%). Der Verzicht auf ein Auto, der in der Schweiz mit 4,0% an sechster Stelle lag, erreichte im europäischen Durchschnitt mit 5,7% lediglich Rang 11 und wurde somit verhältnismässig selten genannt. Lediglich der Verzicht auf einen Internetzugang zu Hause kam in Europa noch seltener vor (2,7%). 

Vergleich mit dem bisherigen Indikator
zur materiellen Entbehrung

Um die Auswirkungen der Revision auf die Resultate untersuchen zu können, werden die Daten bis 2020 verwendet. Dies ist das letzte Jahr, in welchem beide Definitionen der Deprivation (bisheriges und neues Konzept) umgesetzt werden können. Ab 2021 wurden die Fragen zum Zugang zu einer Waschmaschine und Besitz eines Farbfernsehers nicht mehr erhoben.

G7 zeigt, dass sich die Quote der materiellen und sozialen Deprivation und die bisherige Quote der materiellen Entbehrung in der Schweiz in keinem der betrachteten Jahre signifikant voneinander unterscheiden. Die beiden Quoten der erheblichen Deprivation verliefen bis auf einen etwas grösseren Unterschied 2019 ebenfalls ähnlich. Auch bei den Untergruppen gibt es keine signifikanten Abweichungen zwischen dem Anteil der betroffenen Personen gemäss dem bisherigen und dem neuen Konzept der Deprivation. 

Weiterführende Analysen zeigen jedoch, dass sich auf individueller Ebene zwischen den beiden Definitionen durchaus Änderungen ergeben können (siehe T2). Tatsächlich wurden im Jahr 2020 lediglich 3,3% der Bevölkerung nach beiden Definitionen als depriviert eingestuft. Ein Drittel der Personen (1,7% der Bevölkerung), die aufgrund der neuen Definition als betroffen gelten, wären hingegen gemäss der bisherigen Definition nicht als depriviert eingestuft worden, und rund ein Viertel der Personen (1,0% der Bevölkerung), die nach der bisherigen Definition als depriviert galten, sind dies nach der Revision nicht mehr. Je nach Untergruppe können diese Anteile variieren.

Anteile deprivierter Personen, nach bisheriger und neuer Definition, 2020T2

Nicht depriviert (neue Definition) Depriviert
(neue Definition)
Total
Nicht depriviert
(bisherige Definition)
94,0% 1,7% 95,7%
Depriviert
(bisherige Definition)
1,0% 3,3% 4,3%
Total 95,0% 5,0% 100%

Quelle: BFS – Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen,

© BFS 2023SILC-2020 (Version vom 25.11.2022)

Auch wenn die Anteile der betroffenen Personen ähnlich hoch sind, können die Resultate der beiden Konzepte deshalb nicht direkt miteinander verglichen werden. Die Auswertungen nach dem neuen Konzept werden daher rückwirkend für die Jahre ab 2015 zur Verfügung gestellt.

Schlussfolgerungen

Die neue Quote der materiellen und sozialen Deprivation ersetzt den bisherigen Indikator der materiellen Entbehrung. Sowohl das Niveau als auch die zeitliche Entwicklung und die Risikogruppen sind beim neuen Indikator ähnlich wie bei den bisherigen Auswertungen. Dennoch sind die Werte nicht direkt vergleichbar.

Mit der neuen Definition steigt die Aussagekraft des Indikators, da dieser neu auf einer grösseren Anzahl von Fragen beruht und Fragen, die an Relevanz verloren haben, entfallen. Indem neu auch soziale Bereiche abgedeckt werden und Fragen auf individueller Ebene gestellt werden, ergeben sich zusätzliche Analysemöglichkeiten, die in Zukunft weiter vertieft werden können.

Literatur

Bundesamt für Statistik (BFS) (2016). «Armut und materielle Entbehrung von Kindern». Neuchâtel: BFS. https://dam-api.bfs.admin.ch/hub/api/dam/assets/1365790/master

European Commission (2017). «The new EU indicator of material and social deprivation». Technical note. Annex 1 to SPC/ISG/2017/5/4,
https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=25048&langId=en

Guio, Anne-Catherine, David Gordon, Hector Najera & Marco Pomati (2017). «Revising the EU material deprivation variables». Eurostat Statistical Working Papers, Luxembourg: Publications. Office of the European Union, https://data.europa.eu/doi/10.2785/33408

Guio, Anne-Catherine & Karel Van den Bosch (2019). «Deprivation of Women and Men Living in a Couple: Sharing or Unequal Division?» Review of Income and Wealth, https://doi.org/10.1111/roiw.12449

Kaczmarek-Firth, Agata & Didier Dupré (2018). «Measuring material deprivation at individual level and measuring children material deprivation». Working paper 24, UNECE Expert meeting on measuring poverty and inequality, 29–30 November 2018, Vienna, Austria.

Nolan, Brian & Christopher T. Whelan (2010). «Using Non-Monetary Deprivation Indicators to analyse Poverty and Social Exclusion: Lessons from Europe?». Journal of Policy Analysis and Management, 29/02, 305–325, https://doi.org/10.1002/pam.20493

Glossar

Materielle und soziale Deprivation

Eine Person gilt als materiell und sozial depriviert, wenn sie aus finanziellen Gründen einen Mangel in mindestens 5 von 13 Bereichen des täglichen Lebens aufweist, die von den meisten Menschen in Europa als wünschenswert oder sogar notwendig angesehen werden, um ein angemessenes Leben zu führen. Bei einem Mangel in mindestens 7 der 13 Bereiche wird von erheblicher materieller und sozialer Deprivation gesprochen.

Auf Haushaltsebene werden folgende Bereiche berücksichtigt:

– Keine Zahlungsrückstände (Miete oder Hypothekarzinsen für den Hauptwohnsitz, laufende Rechnungen für Wasser, Strom, Gas und Heizung sowie Kreditrückzahlungen)

– In der Lage sein, unerwartete Ausgaben von 2500 Franken innerhalb eines Monats zu tätigen

– In der Lage sein, eine Woche Ferien pro Jahr weg von zu Hause zu finanzieren

– In der Lage sein, mind. jeden 2. Tag eine Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder vegetarischer Entsprechung zu haben

– In der Lage sein, die Wohnung ausreichend zu heizen

– Ein Auto zur privaten Nutzung haben

– Ersetzen von abgenutzten Möbeln

Auf individueller Ebene werden folgende Bereiche berücksichtigt:

– Internetzugang zu Hause (inkl. Smartphone, Tablet etc.)

– Abgetragene Kleider mit einigen neuen Kleidern ersetzen können

– Besitz von zwei Paar passenden Schuhen, davon ein All­wetterpaar

– Jede Woche etwas Geld für sich selbst ausgeben,
ohne jemanden fragen zu müssen

– Regelmässige kostenpflichtige Freizeitbeschäftigung

– Mind. einmal im Monat Freunde oder Familie zum Trinken oder Essen treffen

Finanziell bedingter Mangel

Um Mängel aus finanziellen Gründen von Mängeln aus anderen Grün­den abzugrenzen, erfolgt die Fragestellung mehrstufig. Zunächst wird jeweils die Frage gestellt, ob ein Mangel vorliegt oder nicht, z. B. «Haben Sie in Ihrem Haushalt ein Auto für private Zwecke?». Wird die erste Frage mit «nein» beantwortet, wird weiter gefragt, ob der Verzicht «aus finanziellen oder anderen Gründen» erfolgt.

Genauigkeit der Ergebnisse und Signifikanz

Ergebnisse aus Stichprobenerhebungen sind immer mit einer Unsicherheit behaftet. Diese kann quantifiziert werden, indem ein Vertrauensintervall berechnet wird, das umso enger ist, je genauer die Ergebnisse sind. Der Unterschied zwischen zwei Schätzwerten gilt als statistisch signifikant, wenn sich ihre Vertrauensintervalle nicht überschneiden.

Verfügbares Äquivalenzeinkommen

Das verfügbare Äquivalenzeinkommen wird anhand des verfügbaren Haushaltseinkommens (Bruttohaushaltseinkommen abzüglich Sozialversicherungsbeiträge, Steuern, Krankenkassenprämien für die Grundversicherung, Alimente und andere zu leistende Unterhaltsbeiträge) berechnet, indem durch die Anwendung einer Äquivalenzskala die Grösse und Zusammensetzung der Haushalte berücksichtigt wird (modifizierte OECD-Skala). Damit wird den Einsparungen Rechnung getragen, die sich aus dem gemeinsamen Wirtschaften eines Haushalts mit mehreren Personen ergeben. 

Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC)

Die Erhebung über die Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) wird in über 30 Ländern Europas durchgeführt. In der Schweiz werden jährlich rund 8500 Haushalte mit über 18 000 Personen befragt. Ziel ist die Untersuchung der Armut, der sozialen Ausgrenzung und der Lebensbedingungen anhand europäisch vergleichbarer Indikatoren. 2021 enthielt SILC ein spezielles Modul zur Deprivation der Kinder.

www.silc.bfs.admin.ch

Weiterführende Informationen

www.statistik.ch → Statistiken finden → 20 Wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerung → Soziale Situation, Wohlbefinden und Armut → Armut und Deprivation → Materielle und soziale Deprivation