In der Geschichte der Schweiz wurde das Stimm- und Wahlrecht stetig angepasst (Poledna 2014). Vor der Gründung des Bundesstaates 1848 gab es Phasen mit ausgedehntem Stimm- und Wahlrecht, aber auch Einschränkungen mit Bedingungen wie Bürgerrecht, Zensus oder Wehrpflicht. Allgemein waren aber Frauen ausgeschlossen.
Im Bundesstaat wurden ab 1848 die Regeln für den Zugang zum Stimm- und Wahlrecht langsam vereinheitlicht und entwickelten sich in Richtung eines allgemeinen Wahlrechts für männliche Staatsbürger ab 20 Jahre. Bis 1978 waren aber kantonale Regeln bestimmend für den Zugang zu eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen, als das neue Bundesgesetz über die politischen Rechte in Kraft trat (Poledna 2014). Heute ist der Bund für die politischen Rechte auf nationaler Ebene zuständig, die Kantone regeln sie für den eigenen Kanton und die Gemeinden.
Die zwei zentralen Erweiterungen des Stimm- und Wahlrechts bilden die Ausweitung auf die Frauen (1971) sowie die Senkung des Stimmrechtsalters auf 18 Jahre (1991). In beiden Fällen brauchte es zwei Anläufe mit eidgenössischen Volksabstimmungen zur Änderung der Bundesverfassung, um die Frauen und die jüngste Generation politisch einzubeziehen. Einige Kantone haben diesen Erweiterungsschritt bereits früher getan, während andere erst später gefolgt sind. Die Ausweitung des Stimmrechts sowie die Debatte darüber, wer alles stimm- und wahlberechtigt sein soll, ist somit ein Thema, das sowohl Bund wie Kantone beschäftigt. In einem Zusammenspiel zwischen diesen Ebenen wird und wurde jeweils austariert, welche Bevölkerungsgruppen in den politischen Prozess einbezogen werden sollen. Somit bedingt eine Übersicht der Entwicklungsgeschichte des Stimmrechts in der Schweiz einen Blick sowohl auf die Kantone wie auch auf den Bund.
Die Debatte zur Frage des Zugangs zu Stimm- und Wahlrecht steht nicht still: bereits in den 1990er-Jahren kam die Frage auf, ob niedergelassene Ausländerinnen und Ausländer ebenfalls an den politischen Entscheidungen teilhaben sollen, was insbesondere in der Westschweiz auf Zustimmung stiess. Der Kanton Jura als Vorreiter lässt bereits seit seiner Gründung Ausländerinnen und Ausländer teilweise am politischen Prozess teilhaben. Um die Jahrtausendwende kam schliesslich auch die Forderung nach dem Stimmrechtsalter 16 auf, wobei bisher erst ein Kanton (Glarus an der Landsgemeinde 2007) das kantonale und kommunale Stimmrecht auf diese Generation ausgeweitet hat.
2.1 Vier Phasen des Ausbaus des Stimmrechts
Mit Blick auf die kantonalen und eidgenössischen Abstimmungen zum Stimm- und Wahlrecht lassen sich vier Phasen des Ausbaus beobachten:
– Zuerst wurde die Inklusion der Frauen in der Politik lange und intensiv diskutiert. Was nach dem ersten Weltkrieg angestossen wurde, dauerte bis 1991, als schliesslich auch in Appenzell Innerrhoden alle Frauen auf eidgenössischer, kantonaler und kommunaler Ebene stimm- und wahlberechtigt wurden. Die meisten Kantone hatten wie der Bund bis 1972 diesen Schritt bereits auf kommunaler und kantonaler Ebene getan.
– Kurz nach der erfolgreichen Abstimmung über das eidgenössische Frauenstimmrecht im Jahr 1971 kam die Diskussion über die Erweiterung auf die 18- und 19-Jährigen, die in den meisten Kantonen und auf eidgenössischer Ebene nicht stimm- und wahlberechtigt waren, aufs Tapet. Im Jahr 1991 hatten bereits viele Kantone das Stimmrechtsalter gesenkt, als die Grundsatzfrage mit einer Volksabstimmung auch auf eidgenössischer Ebene beantwortet wurde.
– In den 1990er-Jahren beobachtet man eine erste intensive Welle der Diskussion über den Einbezug der niedergelassenen Ausländerinnen und Ausländer. Diese Diskussion dauert bis heute an, um das Jahr 2010 wurde sie in einigen Kantonen wieder aufgegriffen. Eine einheitliche Regelung existiert aber bis heute nicht.
– Gleichermassen unentschieden sind die Kantone bei der Frage des Stimmrechtsalters 16. Angestossen um die Jahrtausendwende, entschied sich der Kanton Glarus im Jahr 2007 an der Landsgemeinde, das Stimm- und Wahlrecht ab 16 Jahren einzuführen. Bisher ist kein Kanton gefolgt, obwohl es einige entsprechende Initiativen dazu gab. Zuletzt beschäftigte sich das eidgenössische Parlament im Jahr 2020 mit der Frage, wobei der Nationalrat einer parlamentarischen Initiative zur Einführung des Stimm- und Wahlrechtsalter 16 zustimmte. Sollte der Ständerat den Vorschlag ebenfalls unterstützen, hätten die Stimmberechtigten das letzte Wort in einer obligatorischen Referendumsabstimmung zur Änderung der Bundesverfassung.
Allgemein zeigt sich so eine lebendige und fortlaufende Diskussion zur Frage, wer in der Schweiz stimmberechtigt sein soll. Kaum ist die eine Gruppe einbezogen, gibt es Ideen und Vorschläge für die Erweiterung auf die nächste Gruppe. Da die Kantone in eigener Kompetenz entscheiden können, wer in kantonalen und kommunalen Fragen stimmberechtigt ist, ergibt sich eine Vielfalt der Lösungen sowie die Möglichkeit des föderalistischen Labors. Die eidgenössischen Ausweitungen des Stimm- und Wahlrechts werden so in den Kantonen vorgespurt. Dabei haben diese auch einen Einfluss auf die Politik des Bundes: im Kanton Glarus wählen die 16- und 17-Jährigen beispielsweise die Vertretung im Ständerat mit, aber nicht die Vertretung im Nationalrat.
In der Regel erfolgte die Erweiterung des Stimm- und Wahlrechts schrittweise. Erste Vorschläge werden meist abgelehnt, Pioniere haben selten sofort Erfolg. Anschliessend folgt die Taktik der kleinen Schritte:
– Beispielsweise, indem spezifische Teilrechte gewährt werden. Frauen haben in den Kantonen und Gemeinden zuerst in den Kirch-, Schul- und Fürsorgegemeinden und deren Kommissionen, also in «sozialen» Fragen, politische Mitbestimmungsrechte erhalten. So wurde den Frauen im Kanton Genf bereits im Jahr 1886 das passive Wahlrecht für Schulkommissionen gewährt (Voegeli 2019).
– Beispielsweise, indem aktives und passives Wahlrecht getrennt werden. So geschehen in Glarus: 16- und 17-jährige Personen sind nur aktiv stimm- und wahlberechtigt, können aber selber noch nicht in politische Ämter gewählt werden. Das passive Wahlrecht wird erst ab 18 Jahren gewährt. Häufig wird diese Trennung auch beim Ausländerstimmrecht genutzt, d. h. diese können zwar die Repräsentation mitwählen, aber nicht selber gewählt werden und somit in Legislative oder Exekutive mitentscheiden.
– Häufig gibt es auch Versuche, die drei Stufen der Schweizer Staatsorganisation auszunutzen: scheitert die Einführung in eidgenössischen oder kantonalen Angelegenheiten, so kann es beispielsweise den Gemeinden freigestellt werden, fakultativ das Stimm- und Wahlrecht auf andere Gruppen zu erweitern. So ging beispielsweise Graubünden beim Frauenstimmrecht vor: bereits 1962 wurde es den Gemeinden freigestellt, fakultativ das Frauenstimmrecht einzuführen. 1972 wurde das Frauenstimmrecht schliesslich auf Kantons- und Kreisebene eingeführt, die Gemeinden behielten aber noch bis 1983 die Autonomie, das Frauenstimmrecht in Gemeindeangelegenheiten einzuführen. Gut ein Dutzend Gemeinden verwehrte sich bis zu diesem Zeitpunkt noch den Frauen (EKF 2001), als eine kantonale Abstimmung schliesslich alle Gemeinden verpflichtete, das Frauenstimmrecht einzuführen.
Neben einer Vielfalt der Taktiken zeigt sich auch eine Vielfalt der Initiantinnen und Initianten und Gegnerinnen und Gegner: von der PdA, der Sozialdemokratie bis zu den Konservativen und Liberalen haben die verschiedensten Parteien, Frauenvereine und politischen Organisationen je nach Anliegen, Zeitpunkt und Kanton Ideen und Vorschläge lanciert, teils abgelehnt, oder aktiv bekämpft. Obwohl viele der Anliegen von Linken unterstützt und eingebracht wurden, so haben es sich doch auch andere Parteien zum Ziel gesetzt, die möglichen neuen Stimmberechtigten nicht vor den Kopf zu stossen und selbst auch für eine Erweiterung einzustehen. Schliesslich führt der Einbezug zusätzlicher Bevölkerungsgruppen in die Politik potenziell auch zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse, von denen die Parteien entsprechend profitieren wollen. So kann beispielsweise der Ansatz eines teilweise diskutierten «Stimmrechtsalter 0» eine potenzielle Förderung von Familien und deren Interessen bedeuten: Beim Stimmrechtsalter 0 sollen die Eltern das Stimmrecht der Kinder wahrnehmen, bis diese selber abstimmen können. So hätten Familien mit Kindern ein höheres Stimmgewicht, was familienfreundlichen Lösungen (und Parteien) zu Gute kommen würde. Allerdings sind beim Stimmrechtsalter 0 bisher keine Vorstösse erfolgreich gewesen.
Die vier Phasen der Ausweitung des Stimmrechts in der SchweizT1
1919–1972 (–1991) | Einbindung der Frauen, grösste Erweiterung |
1972–1992 |
Einbindung der jüngeren Generation, Stimmrechtsalter 18 |
1979–… |
Einbindung von niedergelassenen Ausländerinnen und Ausländern |
2000–... | Erneute Einbindung der jüngeren Generation, Stimmrechtsalter 16 |
Notiz: Die Tabelle zeigt die vier Phasen der Ausweitung des Stimmrechts in der Schweiz
und deren intensivste Zeit der Debatte auf kantonaler und eidgenössischer Ebene:
1919: erste kantonale Abstimmung zum allgemeinen Frauenstimmrecht in Neuenburg.
1972: erste kantonale Abstimmungen zum kantonalen Stimmrechtsalter 18 in Genf und Basel-Land.
1979: der Kanton Jura gewährt ab seiner Gründung Ausländerinnen und Ausländern als erster Kanton die politische Mitbestimmung auf Kantonsebene.
2000: erste kantonale Abstimmung zum kantonalen Stimmrechtsalter 16 in Schaffhausen.
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