
Todesfälle in der Schweiz auf Rekordniveau
Die Spanische Grippe von 1918
Vor 100 Jahren, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, kostete eine ungewöhnlich virulente Grippeepidemie einer undenkbar grossen Anzahl junger Männer und Frauen in der Schweiz und auf der ganzen Welt das Leben. Aufgrund der als Spanische Grippe bekannten Pandemie kletterte die Sterblichkeit in der Schweiz auf ein Rekordniveau. Das Bundesamt für Statistik (BFS) präsentiert im vorliegenden BFS Aktuell seine gesammelten demografischen Daten zu diesem tragischen Ereignis.
Die Spanische Grippe, die kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs ausbrach, forderte in der Schweiz zwischen Juli 1918 und Mai 1919 rund 25 000 Todesopfer. Grippebedingt kletterte die Sterblichkeit hierzulande auf ein Rekordniveau. Im Jahr 1918 starben schweizweit etwas mehr als 75 000 Menschen. Bis heute wurden in keinem anderen Jahr seit Beginn des 19. Jahrhunderts so viele Todesfälle registriert. Doch nicht nur in der Schweiz wurden ungewöhnlich viele Grippetote gezählt. Weltweit raffte die Spanische Grippe zwischen 20 bis 50 Millionen Menschen dahin.
1 Historische Entwicklung der Sterblichkeit in der Schweiz
Seit Anfang des 19. Jahrhunderts schwankt die Zahl der jährlichen Todesfälle in der Schweiz mit zwei Ausnahmen zwischen knapp 40 000 und 70 000 (vgl. Grafik G1). In Grafik G1 sind zwei Spitzen zu erkennen, die deutlich über diesen Höchstwert hinausragen. Die mit 75 000 Todesfällen höhere der beiden Spitzen im Jahr 1918 ist der Spanischen Grippe zuzuschreiben. Die zweite fällt auf das Jahr 1871, in dem in der Schweiz fast genauso viele Todesfälle gemeldet wurden (74 000) wie 1918. Verantwortlich für diesen hohen Wert soll eine Pockenepidemie gewesen sein, die während des Deutsch-Französischen Kriegs von in der Schweiz internierten französischen Soldaten eingeschleppt wurde (G. Jorland, 2011). Eine dritte, ebenfalls relativ markante Spitze zeigt sich im Jahr 1817. Sie ist auf die Hungersnot in der Ostschweiz zurückzuführen, die von den Missernten im Jahr 1816 und dem Verlust unzähliger Spinner – und Weberstellen durch die Mechanisierung der Webstühle verursacht wurde (D. Krämer, 2015).

Die gleichen Spitzen sind bei der rohen Sterbeziffer, d.h. der Anzahl Todesfälle pro tausend Einwohnerinnen und Einwohner, zu beobachten, wobei die Sterblichkeit 1871 massiv höher ausfiel als 1918. 1871 lag sie bei 28, im Jahr 1918 bei lediglich 19 Todesfällen pro tausend Personen. Hierbei ist zu beachten, dass die Säuglingssterblichkeit bis Anfang des 20. Jahrhunderts sehr hoch war und auch Infektionskrankheiten die Sterberate erheblich nach oben trieben. Obwohl die Pocken 1871 zweifellos weniger Menschen töteten als die Grippe 1918, war die durchschnittliche Sterberate Ende des 19. Jahrhunderts deutlich höher.


Die Lebenserwartung
Ende des 19. Jahrhunderts hatten Männer und Frauen bei der Geburt eine Lebenserwartung von rund 49 Jahren (vgl. Grafik G2). Innerhalb von knapp zwanzig Jahren erhöhte sie sich um mehr als sechs Jahre und lag 1917 bei 55,4 Jahren. Grund für diesen schnellen, aber sehr unregelmässigen Anstieg war der Rückgang der Säuglingssterblichkeit und der Infektionskrankheiten. Im Jahr darauf sank die Lebenserwartung aufgrund der Grippe um gut neun Jahre auf 46,3 Jahre, bevor sie 1919 wieder auf 55,0 Jahre anstieg. Ein Vergleich mit der Entwicklung der Lebenserwartung der Männer und Frauen mit 65 Jahren liefert interessante Erkenntnisse. Um 1900 belief sie sich auf rund 10,4 Jahre. 1917 hatte sie sich nur unmerklich auf 10,6 Jahre erhöht. Bei der Lebenserwartung der älteren Menschen wurden somit in diesen beiden Jahrzehnten sozusagen keine Fortschritte erzielt. Mit 10,4 Jahren im Jahr 1918 war sie nahezu deckungsgleich mit den Werten der Jahre zuvor. Wie die folgenden Ausführungen zeigen, gehörten ältere Menschen nicht zu den Hauptopfern der Spanischen Grippe, ihre Sterblichkeit erhöhte sich folglich nur begrenzt.
2 Die Sterblichkeit in der Schweiz im Jahr 1918
In den Jahren vor und nach 1918 (1915 – 1921) starben monatlich zwischen 3000 und 6000 Personen (vgl. Grafik G3). Klar zu erkennen sind typische Jahreszyklen mit wenig Todesfällen im Sommer und vielen Todesfällen im Winter. Im Vergleich dazu unterscheiden sich die Werte von 1918 deutlich. Bereits im Juli und August wurden mehr als 6000 Todesfälle verzeichnet, obwohl die Sterblichkeit in diesen beiden Monaten sonst besonders tief war. Im Oktober und im November starben mehr als 10 000 Personen. Im Dezember lag die Zahl der Todesfälle noch immer bei rund 8000 und blieb bis im Mai 1919 auf einem relativ hohen Stand.
In den Jahren vor 1918 waren die jährlichen Sterberaten sehr stabil. Bei den Männern wurden 14, bei den Frauen 13 Todesfälle pro Tausend verzeichnet. 1918 stieg die Sterberate bei den Männern auf 21 Promille und bei den Frauen auf 18 Promille. In den Jahren darauf fiel sie wieder auf die Werte vor 1918. 1918 starben in der Schweiz gut 39 000 Männer und knapp 36 000 Frauen; das sind 45% mehr Männer und 36% mehr Frauen als 1917. Insgesamt erhöhte sich die Sterblichkeit somit um 41%. Ein vergleichbarer Anstieg war in der Schweiz nur während der Hungersnot von 1817 zu beobachten. Um das Ausmass dieses Phänomens veranschaulichen zu können, werden die Jahre zwischen 1900 und 1917, in denen die jährlichen Veränderungen der Anzahl Todesfälle zwischen – 9% und + 8% bei den Männern und zwischen – 9% und + 13% bei den Frauen schwankten betrachtet.
Die Sterblichkeit nach Alter
Ein Vergleich der Anzahl Todesfälle in den Jahren 1917 und 1918 in den wichtigsten Altersklassen deckt bei den jungen Erwachsenen im Jahr 1918 ungewöhnliche Werte auf. Bei den älteren Personen ist praktisch kein Unterschied festzustellen (vgl. Grafik G4). Anders sieht es bei den 20- bis 39-Jährigen aus: 1917 starben etwas mehr als 6000, ein Jahr später waren es rund 20 000. Bei den Personen ab 70 Jahren hingegen variierte die Anzahl Todesfälle kaum. Sie betrug sowohl 1917 als auch 1918 etwas weniger als 17 000. Somit starben 1918 mehr junge Erwachsene als ältere Personen, obschon bei Letzteren üblicherweise fast dreimal so viele Todesfälle verzeichnet werden wie bei Ersteren. Zwischen 1917 und 1918 verdreifachte sich die Sterberate der 20- bis 29-Jährigen von 5 auf 17 Todesfälle pro tausend Personen. Bei den Männern war sie 1918 sogar viermal höher als 1917 (20 bzw. 5 Promille), bei den Frauen der gleichen Altersklasse stieg sie hingegen etwas weniger stark (von 5 auf 13 Promille). Vergleicht man die Sterbewahrscheinlichkeit der einzelnen Altersklassen in den Jahren 1917 und 1918, zeigt sich eine deutliche Übersterblichkeit der 18- bis 40-Jährigen (vgl. Grafiken G5 und G6). Diese Abweichung ist bei beiden Geschlechtern festzustellen, fällt bei den Männern aber noch stärker aus als bei den Frauen.



3 Die Grippe und die anderen Todesursachen im Jahr 1918
Nebst der Grippe waren die häufigsten Todesursachen 1918 die gleichen wie in den Jahren davor und danach: Herzkreislaufkrankheiten, die verschiedenen Tuberkulosearten, Atemwegserkrankungen ohne Grippe (Lungenentzündungen usw.), Tumore und Krankheiten des Verdauungssystems (in dieser Reihenfolge). Diese fünf Krankheitsgruppen waren 2018 für zwei Drittel der nicht grippebedingten Todesfälle verantwortlich. Die Entwicklung der Anzahl Todesfälle von 1900 bis 1939 nach Ursachengruppe zeigt, dass sich die auf die Grippe zurückzuführenden Todesfälle nicht auf die anderen Todesursachen ausgewirkt haben (vgl. Grafik G7). Tatsächlich blieb die Zahl der nicht grippeverursachten Todesfälle im Verhältnis zu den Jahren vor und nach 1918 unverändert. Folglich summierten sich die grippebedingten Todesfälle mit denen eines «normalen» Jahres. Wie erwähnt waren die Grippetoten oft jung und, obwohl sie unter Umständen durch die schwierigen kriegsbedingten Verhältnisse in Europa geschwächt waren, nicht in besonders schlechter gesundheitlicher Verfassung (L. Marino, 2014).

4 Ursprung und Bilanz der Spanischen Grippe
Der Ursprung dieser Pandemie ist bis heute nicht abschliessend geklärt. Es gibt verschiedene Hypothesen für die Herkunft des Erregers. Eine besagt, er sei in den USA erstmals aufgetaucht und von dort von amerikanischen Soldaten, die zur Verstärkung der Alliierten nach Europa kamen, eingeschleppt worden (M. Vasold, 2009). Eine andere situiert den Ursprung im Fernen Osten, von wo die meisten jährlichen Grippeepidemien stammen (C. Hannoun, 1995). Als praktisch erwiesen gilt bei allen Theorien, dass es sich beim Erreger um den Influenzavirus H1N1 handelte (C. Sonderegger, 1991). In den beiden Jahren, in denen die Spanische Grippe grassierte, tötete sie weltweit 20 bis 50 Millionen Menschen (C. Sonderegger, 2006). In Europa lag die Opferzahl bei schätzungsweise 2,3 Millionen (M. Vasold, 2009). In den meisten Ländern trat die Spanische Grippe in zwei Wellen auf. Bei der ersten Ansteckungswelle von Mai bis August 1918 starben relativ wenige Menschen. Die zweite, die von September 1918 bis Mai 1919 dauerte und im November ihren Höhepunkt erreichte, forderte massiv mehr Todesopfer. Die erste Welle traf hauptsächlich die Westschweizer Kantone, die zweite erfasste die ganze Schweiz. 1918 starben etwas mehr als 21 000 Personen an der Grippe, in den Jahren 1918 und 1919 zusammengenommen rund 25 000.
Besonders betroffen waren die aufgebotenen Truppen und einige Rekrutenschulen. Gemäss amtlichen Zahlen tötete die Grippe insgesamt 1805 Schweizer Armeesoldaten. Dabei gilt es zu beachten, dass sich in der Schweiz gegen Kriegsende lediglich 33 000 bis 37 000 Soldaten gleichzeitig im Grenzschutzdienst befanden (W. Nussbaum, 1982).
Offiziellen Schätzungen zufolge steckten sich 1918 in der Schweiz 660 000 Personen mit der Spanischen Grippe an (C. Ammon, 2000). Fachleute halten diese Zahl allerdings für massiv unterschätzt. Sie gehen davon aus, dass sich in der Schweiz rund zwei Millionen Menschen mit dem Influenzavirus angesteckt haben, was der Hälfte der damaligen Bevölkerung entspricht (C. Ammon, 2000).
5 Unterschiedliche grippebedingte Sterblichkeit zwischen Frauen und Männern
1918 starben rund 13 000 Männer und 9000 Frauen an der Grippe. Das entspricht einer Sterberate von sieben Todesfällen pro 1000 Männer und vier Todesfällen pro 1000 Frauen. Am stärksten betroffen waren die 20- bis 29-Jährigen mit über 7000 Grippetoten bzw. 12 Promille, gefolgt von den 30- bis 39-Jährigen mit etwas weniger als 6000 Grippetoten bzw. 10 Promille. In Bezug auf die grippebedingten Todesfälle bestehen geschlechterspezifische Unterschiede. Während die Sterberate bei den 20- bis 29-jährigen Männern 15 Promille und bei den 30- bis 39-jährigen 13 Promille betrug, lag sie bei den Frauen in den gleichen Altersklassen bei 8 bzw. 7 Promille (vgl. Grafik G8). Erstaunlicherweise verzeichneten die 5- bis 14-jährigen Knaben mit 1 Promille die tiefste Sterberate. Zusammengefasst bedeutet dies: Die Grippe war für junge Erwachsene und besonders für junge Männer am tödlichsten.

6 Grippebedingte Todesfälle in den Kantonen
Die Kantone mit der damals grössten Einwohnerzahl verzeichneten logischerweise auch die meisten Grippetoten. Im Kanton Bern waren es über 4000, im Kanton Zürich nahezu 2500 und im Kanton Waadt knapp 2000 (vgl. Grafik G9). Die höchsten Sterberaten hingegen registrierte der Kanton Obwalden (acht Todesfälle pro 1000 Personen der ständigen Wohnbevölkerung), gefolgt von Uri, Wallis, Solothurn und Bern (vgl. Grafik G10). Dabei handelt es sich entweder um Bergkantone mit geringer medizinischer Versorgung (L. Marino, 2014) oder um Westschweizer Kantone, die von beiden Grippewellen erfasst wurden. Die Kantone mit den tiefsten Sterberaten waren Appenzell Ausserrhoden (4 Promille), Thurgau, Zürich, St. Gallen und Aargau. Sie liegen eher im östlichen Teil der Schweiz und wurden von der ersten Grippewelle nur am Rand gestreift.


7 Die Auswirkungen der Grippe auf die Lebensdauer der Generationen
Die Auswirkungen der Grippe auf die durchschnittliche Lebensdauer der verschiedenen Generationen lassen sich anhand der Sterbewahrscheinlichkeit schätzen, von der die Grippetoten abgezogen wurden (vgl. Grafik G11). Wie aus Grafik G12 ersichtlich wird, haben offenbar die im Jahr 1890 geborenen Männer, die im Jahr 1918 ihren 28. Geburtstag gefeiert haben oder hätten feiern sollen, grippebedingt die meisten Lebensjahre verloren. Sie haben ein knappes halbes Jahr eingebüsst. Das sieht nach wenig aus, bedeutet aber, dass bei diesem Geburtenjahrgang insgesamt rund 18 500 Personenjahre einzig und allein durch diese Epidemie verloren gegangen sind.
Die Männer mit Geburtsjahr 1889 und 1891 bis 1894 hat die Grippe um 0,4 Lebensjahre gebracht. Bei den Frauen war der Verlust weniger ausgeprägt; einzig beim Geburtsjahrgang 1889 reduzierte sich die Lebenserwartung in einem ähnlichen Ausmass (– 0,3 Jahre). Die grössten Auswirkungen hatte die Grippe auf die Geburtsjahrgänge 1917 und 1918. Ersterer büsste knapp 0,4 Jahre, Letzterer 0,3 Jahre ein. Opfer waren dabei ausschliesslich sehr junge Kinder.


8 Literaturhinweise
Ammon, C. (2000): Chroniques d'une épidémie – Grippe espagnole à Genève (1918 – 1919), DES Histoire de la Médecine, Université de Genève
Hannoun, C. (1995): La grippe et ses virus, Presse Universitaire de France, Paris
Jorland G. (2011): La variole et la guerre de 1870, Les Tribunes de la santé 2011/4 (n° 33), Presses de Sciences Po, 25 – 30
Krämer D. (2015): «Menschen grasten nun mit dem Vieh», Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17, Schwabe Verlag, Basel
Marino, L. (2014): La Grippe espagnole en Valais (1918 – 1919), Thèse, Institut d’histoire de la médecine et de la santé publique, Université de Lausanne
Nussbaum, W. (1982): Die Grippe-Epidemie 1918 – 1919 in der schweizerischen Armee, Gesnerus: Swiss Journal of the history of medicine and sciences, Band 39, Heft 2, 243 – 259
Sonderegger, C. (1991): Die Grippeepidemie 1918/19 in der Schweiz, Lizenziatsarbeit, Historisches Institut, Universität Bern
Sonderegger, C. (2006): Grippe, Dictionnaire historique de la Suisse (DHS), Edition Gilles Attinger, Hauterive
Vasold, M. (2009): Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg, Primus Verlag, Darmstadt